Leitlinie zur Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in Kindheit und Jugend

Suchtverhalten bei der Nutzung von digitalen Geräten schränkt nicht nur Jugendliche in ihrem Entwicklungspotential ein, sondern kann die ganze Familie belasten. Umgekehrt können auch Konflikte im Familiensystem eine Flucht in die digitale Medienwelt bei Jugendlichen begünstigen, ebenso wie beispielsweise Verhaltensstörungen. Insbesondere Fachkräfte in Pädiatrie oder im Bereich der Sozial- und Familienhilfe benötigen verlässliche Grundlagen, um Eltern und Familien über Gefahren aufzuklären, präventiv zu intervenieren und bei der Bewältigung eines problematischen Nutzungsverhaltens zu unterstützen.

Die 2023 erstmalig erschienene Leitlinie zur Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in Kindheit und Jugend wertet die aktuelle Studienlage zum Thema aus und gibt Handlungsempfehlungen.

Über diese Leitlinie

Die S2k-Leitlinie zu dysreguliertem Bildschirmmediengebrauch bei Kindern und Jugendlichen wurde im Juli 2023 veröffentlicht. Die Leitlinienkategorie "S2k" bedeutet, dass die Empfehlungen durch eine strukturierte Konsensfindung einer repräsentativen Kommission zustande gekommen sind. Das Wissen wurde jedoch nicht systematisch zusammengetragen und bewertet. Federführende Fachgesellschaft ist die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V. (DGKJ). An der Erstellung mitgewirkt haben weitere 10 Fachverbände und Institutionen, darunter auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Abrufbar ist die Leitlinie über das Register der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF)

Die Leitlinie fasst den aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstand zu exzessiver bzw. dysregulierter Mediennutzung und Computerspielsucht bei Kindern und Jugendlichen zusammen. Basierend auf dem aktuellen Forschungsstand formulieren Expertinnen und Experten konsensbasierte Handlungsempfehlungen für die pädiatrische Versorgung sowie für Eltern und Familien. Die Leitlinie richtet sich an alle Einrichtungen und Personen, die sich mit Fragen zur Kinder- und Jugendgesundheit auseinandersetzen. 

Auswertung von Studien und Forschung zu übermäßiger Mediennutzung

Für die Leitlinie wurden über 150 internationale Studien und Forschungsliteratur ausgewertet. Die Ergebnisse zeigen, dass die Art und Weise des Mediengebrauchs in Familien einen Einfluss auf die Entwicklung in Kindes- und Jugendalter haben kann. Dabei gilt zu berücksichtigen, dass die Einflüsse sich gegenseitig bedingen können und ein exzessiver Mediengebrauch oder eine Computerspielsucht auch als ein mögliches Symptom im (familiären) Kontext betrachtet werden muss.

Verschiedene Studien konnten Zusammenhänge oder Hinweise feststellen, dass die Nutzung digitaler Medien einen (negativen) Einfluss auf verschiedene Bereiche in der kindlichen Entwicklung haben kann, unter anderem:

  • Übergewicht
  • Schlafstörungen
  • Augenerkrankungen
  • Entwicklungsstörungen: Fein-, Grobmotorik und Sprache
  • Bindungsstörung
  • Verhaltensstörung
  • Internetnutzungsstörung (Internetsucht)
  • Glücksspiel
     

Allgemeine Empfehlungen

Fachkräfte sollten Eltern und Familien zu den folgenden Punkten informieren und sie bei der Umsetzung unterstützen:

Checklisten für den Familienalltag

  • Bewegung: Ausreichende körperliche Freizeitaktivitäten der Kinder

  • Medienfreie Zeiten: Gemeinsame Familienaktivitäten unternehmen

  • Gesund Essen: Während des Essens und gemeinsamer Mahlzeiten keine Bildschirmmedien konsumieren

  • Schlaf: Keine Bildschirmmedien im Zimmer während des Schlafens und für ausreichend ungestörten Schlaf sorgen

  • Abendroutine: Eine Stunde vor dem Schlafengehen keine Bildschirmmedien mehr nutzen

  • Morgenroutine: Den Morgen vor der Schule ohne Bildschirmmedien gestalten

  • Erziehung: Bildschirmmedien sollten nicht zur Belohnung, Bestrafung oder Beruhigung eingesetzt werden

  • Interesse zeigen: Eltern sollten sich für die digitalen Aktivitäten ihres Kindes interessieren und es ggf. dabei begleiten

  • Konversation: Vorleben und Anleiten zu vielfältiger Kommunikation, auch ohne Bildschirmmedien

  • Klare Regeln: Gemeinsam altersabhängige Nutzungszeiten vereinbaren und umsetzen sowie Ausnahmen definieren  (z. B. für Schulaufgaben, Wochenenden oder Ferienzeiten)

  • Einheitliche Regeln: Regelungen auch mit anderen Bezugspersonen der Kinder abstimmen, damit diese konsistent eingehalten werden können

  • "Aus den Augen – aus dem Sinn": Bildschirmmedien (wie Smartphone, Tablet, mobile Konsole) an einen nicht sichtbaren Ort räumen, wenn diese nicht in Benutzung sind und möglichst auf Sprachsteuerungen verzichten

  • Hausaufgaben: Ablenkungen durch Bildschirmmedien vermeiden

  • Erstes Smartphone: Vor dem Kauf eines internetfähigen Smartphones gemeinsam eine Medienvereinbarung zwischen Eltern und Kind aufsetzen

  • Sicherheit: altersgemäße Jugendschutzsicherungen und Zeitbegrenzungen auf den digitalen Geräten einrichten

  • Altersempfehlungen: Kein Unterschreiten von Altersempfehlungen und -beschränkungen sowie das Entwicklungsalter des Kindes berücksichtigen

  • Reflexion: Problematische Mediennutzung thematisieren und gemeinsam das kindliche und familiäre Nutzungsverhalten reflektieren; Im Zweifel einen anerkannten Selbsttest nutzen und ggf. professionelle Hilfe suchen 

  • Werbung: Wenn möglich, werbefreie Angebote nutzen oder bei Werbepausen den Ton (und das Bild) ausschalten

  • Sexualaufklärung: für angemessene sexuelle Aufklärung sorgen, bevor Kinder/Jugendliche durch die Mediennutzung mit sexuellen Inhalten in Kontakt kommen

  • Vertrauenspersonen: neben den Eltern sollten weitere Vertrauenspersonen für das Kind erreichbar sein

  • Schulklassen: Das Thema Mediennutzung sollte auch in die Klassengemeinschaft getragen werden (z. B. an Elternabenden)

Altersspezifische Empfehlungen

Je älter Kinder bzw. Jugendliche werden, desto mehr kann die Regulierung der Medienzeiten und der Inhalte im Dialog stattfinden. Bei einer Festlegung der Medienzeiten sind immer die individuelle Entwicklung und die besonderen Bedürfnisse des Kindes zu beachten. Zudem ist es ratsam, die Nutzungszeiten von Bildschirmmedien für die Schule, zu kreativen oder edukativen Zwecken gesondert zu berücksichtigen. 

0-3 Jahre

  • Von der aktiven und passiven Nutzung von Bildschirmmedien fernhalten


3-6 Jahre

  • Höchstens 30 Minuten an einzelnen Tagen
  • Nur in Anwesenheit und mit Begleitung der Eltern
  • Qualitativ hochwertige Inhalte wählen und anschließend besprechen
  • Altersempfehlungen einhalten und Inhalte vorher überprüfen


6-9 Jahre

  • Höchstens 30-45 Minuten an einzelnen Tagen
  • Qualitativ hochwertige Inhalte wählen und anschließend besprechen
  • Wenn möglich immer mit Begleitung der Eltern
  • Altersempfehlungen einhalten und Inhalte vorher überprüfen


9-12 Jahre

  • Höchstens 45-60 Minuten täglich
  • Qualitativ hochwertige Inhalte wählen und anschließend besprechen
  • Wenn möglich immer mit Begleitung der Eltern
  • Altersempfehlungen einhalten und Inhalte vorher überprüfen
  • Frühestens Kindern ab 9 Jahren, besser frühestens ab 12 Jahren, ein eigenes Smartphone mit eingeschränktem Internetzugang überlassen
  • Internetzugang nur mit Aufsicht


12-16 Jahre

  • Höchstens 1-2 Stunden täglich
  • Nutzung nicht nach 21 Uhr
  • Altersempfehlungen beachten und Inhalte vorher überprüfen
  • Inhaltliche Begleitung ermöglichen
  • Regelmäßig die Mediennutzung reflektieren
  • Beschränkten Internetzugang gewähren
  • Bei übermäßiger Nutzung von Bildschirmmedien zu einem Selbsttest ermutigen  und ggf. professionelle Hilfe in Anspruch nehmen


16-18 Jahre

  • Gemeinsame Regeln zur Nutzung von Bildschirmmedien aufstellen
  • Als Orientierung für die Nutzungszeit können 2 Stunden täglich gelten
  • Altersempfehlungen beachten und Inhalte vorher überprüfen
  • Inhaltliche Begleitung ermöglichen
  • Regelmäßig die Mediennutzung reflektieren
  • Uneingeschränkten Internetzugriff ermöglichen, jedoch die Nutzungszeiten und Inhalte weiterhin begleiten
  • Bei übermäßiger Nutzung von Bildschirmmedien zu einem Selbsttest ermutigen und ggf. professionelle Hilfe in Anspruch nehmen

Handlungsempfehlungen für Eltern

Eltern, (älteren) Geschwistern und anderen Verwandten und nahen Bezugspersonen wird empfohlen:

  • Regelmäßig das eigene Nutzungsverhalten zu reflektieren
  • Sich ihrer eigenen Vorbildfunktion bewusst zu werden
  • Möglichst auf Bildschirmmedien in Gegenwart von jüngeren Familienmitgliedern zu verzichten
  • Bei einer notwendigen Nutzung von Bildschirmmedien (z. B. beruflich), alternative Beschäftigungsmöglichkeiten für die Kinder schaffen und die Notwendigkeit erklären
  • Bei Feststellung einer persönlichen übermäßigen Nutzung von Bildschirmmedien, einen Selbsttest durchführen und ggf. professionelle Hilfe in Anspruch nehmen


Die gesamte Leitlinie können Sie über das AWMF Leitlinien-Register einsehen oder in unserem Materialien-Bereich downloaden